DIE ZEIT Interview

1797, 1820, 1968, 2005
Karl-August Tapken, 68, Wirt des Kurhauses zu Dangast, nennt jetzt mal Zahlen, Daten und Fakten

Wenn Karl-August Tapken von sich und seinem Kurhaus erzählt, dann ist alles eine Frage der Zahl und Zeit.

Um 1797 wird Dangast das erste Seebad an der Nordseeküste. Seit 1804 steht das Kurhaus oben auf dem Geestrücken, unter ihm der Jadebusen, am Horizont Wilhelmshaven. 1820 kommt der Kursaal hinzu, in dem man noch heute mit Blick aufs Watt tafeln kann. 1883 wird Tapkens Großmutter hier geboren, bald darauf erscheinen die ersten Künstler. 1907 poussiert sie mit den Malern der Brücke, Erich Heckel, Max Pechstein.

„Sie war ’n hübsches Mädchen“, sagt Tapken, „aber sexuell passierte da nichts.“

Karl-August erblickt im Jahr 1936 das Licht der Welt. Von 1956 an hilft er in der Wirtschaft mit. 1963 kommt der Düsseldorfer Verkehrspolizist und Beuys-Schüler Anatol und mischt zwei Jahrzehnte lang das beschauliche Dangast auf. 1965 gibt’s eine ungenehmigte Vietnamdemonstration im Kursaal, Karl-August erklärt sich spontan solidarisch, schon um Blutvergießen zu vermeiden. 1968 dann das erste Rockkonzert, „da wussten die anderswo noch gar nicht, was das ist“.

Im Jahr 1975 stellt Anatol die nackte, grüne Jade ans Wasser, 1977 schippert er von hier zur documenta nach Kassel . Im selben Jahr stirbt Vater Tapken, Karl-August wird Wirt.

1978 – noch gibt’s keine Grünen – hisst der Künstler Peter Vogel Regenbogen­fahnen am Watt, denen eine Farbe fehlt: Verweis auf die bedrohte Natur. Sie flattern bis heute.

1978/79 fallen die Punks ein, bis zu 250 auf einmal in der Hochsaison. „Was will denn der Opa hier?“, fragt ein schrilles Mädchen ihre Freunde. Die sagen: „Lass den in Frieden, das ist doch Karl-August!“

1980 malt Anatol in 40 Minuten die windzerzauste Mühle, die seither auf 2 mal 4 Metern im Kursaal hängt. „Feiern ist Kunst“, kritzelt er in die Ecke. 1983 stirbt Franz Radziwil, der die surrealsten Dangastbilder geschaffen hat. 1984 setzt der Bildhauer Eckart Grenzer einen mannshohen Penis an die Flutkante, gedacht als Verbindungsglied zwischen dem weiblichen Meer und der männ­lichen Erde.

„Der wollte bloß mal ’n Klopper loslassen“, sagt Tapken. Und was schlägt der Penis Wellen!

Im Jahr 1985 entlässt der Wirt seine Kellner wegen Unzuverlässigkeit; seither bedienen sich die Gäste selber. 1990 beginnt die Ära des Beachvolleyballs am Kurhaus. 1993 wird das Granitglied am Jadebusen zum Welt-Aids-Tag feierlich verhüllt.

Irgendwann um diese Zeit geht Tapken zum Arzt. Der sagt: „Wenn Sie noch 14 Tage so weitermachen, sind Sie auf der Oldenburger Straße!“ – „Was soll ich da?“ – „Sie schalten ja nicht mal mehr“, schimpft der Arzt, „da ist der Fried­hof.“ Seitdem ist das Kurhaus nur noch Freitag, Sonnabend, Sonntag geöffnet.

Im Jahr 2002 bekommt Tapken das Bundesverdienstkreuz, offiziell wegen seiner sozialen Verdienste, in Wirklichkeit wegen seines Rhabarberkuchens.

Von morgens um halb fünf an ist der Wirt auf den Beinen, um zu backen. Später gießt er den Kaffee auf, von Hand, 1000 Tassen am Tag, „das schaffen Maschinen ja gar nicht“. 150 Leute zum Frühstück, 200 zum Mittagessen, 1200 am Nachmittag, mancher Stammgast in der 4. Generation. Draußen schneidet die Tochter den Efeu, damit auf den Tischen kein Kunststoff steht, sondern was Echtes.

Im Juni 2005 haben die Gymnasiasten Abiball, 800 Gäste von abends um 9 bis morgens um 4. Der Wirt spritzt hernach die Bohlen des Kursaales mit dem Wasserschlauch ab, und um 9 ist’s, als wär nichts gewesen.

„Ich denk immer bloß an den nächsten Morgen“, sagt Karl-August Tapken. „Da kommen die Nächsten.“

 
COPYRIGHT: (c) DIE ZEIT 21.07.2005 Nr.30
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